In meiner ersten Woche in Istanbul hatte ich mich überfordert. Jeden Tag neue Sehenswürdigkeiten, weite Wege auf kaputten Füßen und natürlich ständig neue Gesichter hatten mich völlig „geflasht“. Ich fand mich wieder in einer Bar namens Araf (Istanbuler werden lachen – da hängen die Erasmus-Leute in Scharen herum). Etwa zehn Bekannte tanzten und sprangen dort zu türkischer, spanischer und französischer Gipsy-Musik herum und irgendwann musste ich mich einfach einmal ausruhen. Das kann man im Araf nicht, aber man kann es versuchen, an einem der Fenster mit Blick über wuselige Straßen.
Ich saß also da und versuchte, für fünf Minuten „herunter zu kommen“, als mich Senem ansprach – nach etwa drei Minuten „Ruhe“. Ob es mir gut ginge, ob sie mir helfen könne. Ob ich allein da sei, ob ich mich zu ihr und ihren Freunden setzen wolle. Dass ich traurig aussehe und einsam. „Alles, was ich will, ist meine Ruhe“, dachte ich, aber sie war so nett, und ich wollte nicht unhöflich sein, also habe ich mich ein bisschen mit ihr unterhalten. Sie sei gerade mit ihren Freunden unterwegs. Sie alle seien Tscherkessen und der Typ neben ihr – ein stetig grinsender Schnauzbart – sei ihr Tanzlehrer. Ich weiß nicht mehr so ganz genau, warum, aber irgendwann habe ich dann versprochen, mir das mal anzuschauen.
Und der Schnauzbart versprach, mir Tanzen beizubringen. Erwartet hatte ich es nicht, aber schon am nächsten Tag hatte Senem mir eine E-mail geschrieben und mir einen Link zu einem Video bei Youtube geschickt (http://www.youtube.com/watch?v=SXN_8ojIc14) mit einem ihrer Auftritte. Offen gesagt: Ich habe mich scheckig gelacht über den Tanz. Aber interessant ist er alle mal.
Der letzte Osmane
Die Tanzstunden begannen erst im Oktober, davor haben wir uns einen Abend getroffen, um einen Film namens „Der letzte Osmane“ zu schauen. Ich habe Euch davon berichtet (30. September).
Ende Oktober bekam ich dann eine SMS: Das Training habe an jenem Tag begonnen und sie entschuldige sich, dass sie sich erst so kurzfristig melde, aber ich könne mir das ja mal angucken. Ich bin also zum Maslak-Campus der Istanbul Technikal University gefahren, um mir tscherkessische Volkstänzer anzuschauen. Das war so absurd, dass ich im Bus die ganze Zeit vor mich hingrinsen musste. Maslak liegt völlig ab von allen Istanbuler Stadtteilen, die ich bis dahin besucht hatte und außer Hochhäusern und einer ausgesprochen hässlichen ITÜ kann man dort auch nicht viel sehen.
Leider hatte die Gruppe an dem Tag früher aufgehört und ich war etwas spät dran, so dass ich nur noch mit ihnen essen gehen konnte. Danach sind wir zurück zum Kneipenviertel Taksim gefahren und haben in einer Bar ein Bier getrunken. Dort habe ich dann meinen ersten Privatunterricht in tscherkessischer Kulturkunde bekommen – von einer 30 köpfigen Gruppe tscherkessischer Volkstänzer, die völlig fasziniert davon waren, dass ich mich wirklich für ihre Traditionen interessiert habe. „Selbst die Türken schütteln irgendwann den Kopf und sagen, dass wir spinnen!“
Tscherkessische Geschichtsschreibung
Eine kurze Zusammenfassung: Tscherkessen kommen ursprünglich aus der Gegend nördlich des schwarzen Meeres. Nach dem russisch-kaukasischen Krieg Mitte des 19. Jahrhunderts sind sie ins Osmanische Reich umgesiedelt worden, wobei die meisten gestorben sind. Dieser Völkermord (wie sie ihn nennen, Geschichtsschreibung ist in diesem Land allerdings ziemlich kreativ) ist ziemlich wichtig, vor allem weil die Tscherkessen ziemliche Angst davor zu haben scheinen, ihre Kultur zu verlieren.
Ein Link, um mehr davon zu lesen: http://www.tscherkessen-koeln.de/mai.htm
Anders als andere Volksgruppen haben sich die Tscherkessen sehr gut in den Staat integriert, haben sie sich ein paar Traditionen erhalten. Senem liebt es vor allem von typisch tscherkessischen Hochzeiten zu erzählen. Die dauern drei Tage und der Bräutigam sieht seine Frau während der Zeit nicht. Beide heiraten unabhängig voneinander – jedenfalls ist es das, was Senem erklärt hat. Die Braut feiert mit der Familie und Freunden während der Mann irgendwo anders herumläuft. Auf diesen Feiern tanzt man natürlich tscherkessisch. Die Frauen stehen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen. „Und dann, dann macht man Allof!“ Senem lacht, während ihr Freund die Augen rollt und leise stöhnt. „Nee, Senem, das willst Du doch jetzt nicht wirklich versuchen, zu erklären!“ ruft einer der Volkstänzer. „Das versteht man einfach nicht, wenn man kein Tscherkesse ist.“
Allof
Allof heißt so viel wie Komplimente machen – so habe ich das jedenfalls verstanden. Wenn ein Tscherkesse eine Frau kennen lernt MUSS er ihr Komplimente machen, egal wie sie aussieht, alles andere wäre unhöflich. Auf diesen Hochzeiten wird das perfektioniert. Gefällt eine Frau einem Mann, dann sagt er den anderen Männern, dass sie aufhören sollen, ihr Komplimente zu machen. Dann gibt er einem Freund ein Geschenk und/oder einen Brief, den dieser dann an eine Freundin dieser Frau weitergibt, mit der Bitte um ein Treffen. Dann muss die Frau antworten – und die erste Antwort lautet immer „nein“. Senem gab ein Beispiel: „Wenn der Mann zum Beispiel schreibt, dass die Frau so schön lacht wie die Sonne, dann antwortet sie ‚WAS? Nur wie die Sonne?!’“
Einige Männer können diese Briefe natürlich besser schreiben als andere. Senems Freund Ertem erzählte lachend von einem Kumpel, für den er schon öfter solche vor lächerlich übertriebenen Komplimenten überquellenden Briefe geschrieben hätte. Wenn dieser sich dann mit Frauen getroffen hätten, seien die immer total verwirrt, warum er so ganz anders spreche als schreibe. Der Kumpel, um den es ging, saß übrigens neben Ertem und wurde knallrot.
Irgendwann sagt die Frau vielleicht „ja“ und die beiden gehen zum Beispiel zusammen spazieren. Dann weiß man aber noch immer nicht, dass der andere einen wirklich mag, denn dieses Allof austauschen ist mehr ein Spiel. Manchmal sei das nur für diesen einen Hochzeits-Abend, und nur selten sei das wirklich ernst gemeint. „Und wie weiß man dann, ob der Mann einen wirklich mag, oder ob er nur höflich ist?“ – „Ach, das merkt man irgendwann.“
Entführungen
Ein anderer Brauch ist es, die Braut zu entführen. Tscherkessen fragen ihre Eltern, bevor sie heiraten. Sind die Eltern der Braut mit dem Mann nicht einverstanden, dann können die beiden eigentlich nicht heiraten. Es sei denn, die Braut und der Bräutigam verständigen sich auf eine Entführung. Dann holen Freunde von beiden die Braut nachts aus dem Haus der Eltern und bringen sie irgendwohin, wo sie „sicher“ ist. Dann sagen sie den Eltern „Eure Tochter ist bei uns, sie ist sicher und sie gehört jetzt zu dieser und jener Familie“. Dann haben die Eltern Pech gehabt und die neue Familie ist verantwortlich für die Frau. Dann kann sie heiraten. Normalerweise geht das Ehepaar dann nach der Hochzeit zu den Eltern und entschuldigt sich und alles ist wieder gut. Während der Entführungszeit sieht der Bräutigam seine Zukünftige übrigens nicht, sie bleibt bei Freunden. „Meine Eltern haben übrigens auch so geheiratet“, sagt Senem. „Ertems auch.“
Ich hätte diesen Erzählungen vielleicht nicht so viel Glauben geschenkt, hätte ich nicht erlebt, wie sehr solche Traditionen in dieser Gruppe von Studenten eingehalten werden. Zum Beispiel ist es nicht erlaubt, in Gegenwart von Respektspersonen zu rauchen und zu trinken, es sei denn diese gibt ihr Einverständnis. Irgendwann kam ein Mann herein, der vielleicht 25, 30 Jahre alt war und wie auf Kommando versteckten alle Jungs am Tisch plötzlich ihre Zigaretten. Innerhalb der nächsten Stunde – so lange blieb dieser Spielverderber – hat niemand mehr ein Bier nachbestellt. Er war der Akkordeon-Lehrer der Musiker in der Gruppe. Eine andere, recht anstrengende Tradition: Wenn jemand Bekanntes den Raum betritt oder verlässt, steht man auf und begrüßt oder verabschiedet ihn persönlich. Während des Abends kamen in Abständen etwa fünf Menschen nach, fünf weitere gingen vorzeitig. Jedes einzelne Mal sind alle aufgestanden und haben mit Handschlag „hallo“ oder „tschüß“ gesagt.
Später am Abend konnte ich dann am eigenen Leib erfahren, was es heißt, „Allof“ zu bekommen. Ömer, einer der Freunde von Senems Bruder, hatte mitbekommen, dass Senem mir alles erklärt hatte. Er ließ mir durch sie einen Keks überreichen. Ömer spricht nur Türkisch, also hat Senem versucht, die „leidenschaftliche“ Sprache der Tscherkessen ins Englische zu übertragen. „Ja, also er meint, hmmm, dieser Keks ist süßer, aber du bist süßer – nein! Dieser Keks, wenn Du ihn isst, wird süß schmecken, aber du würdest süßer schmecken. Oder so.“ – Antwort: „Ich bin also süßer als ein Keks? Na danke!“ Zehn tscherkessische Lacher hatte ich auf meiner Seite, Ömer hat es dann nicht weiter versucht. „Du hast Talent!“ meinte Senem.
Wie lange ich eigentlich in der Türkei bliebe, war dann die nächste Frage, vielleicht ergebe sich ja noch eine Hochzeit. Als ich zugab, dass ich nur noch drei Monate bleibe, war sie entsetzt. „Wenn Du sie entführen willst, ich gebe mein Einverständnis“, meinte Ertem, Senems Freund. „Ich ziehe mich dann zurück.“ Die nächsten zehn Minuten drehte sich die Diskussion dann um die Umstände meiner möglichen Entführung. Senem fiel als Bräutigam allerdings aus, sie wollte doch bei Ertem bleiben.
Der Abend war nicht nur wegen dieses Tscherkessisch-Crash-Kurses ein sehr spannender, deshalb bin ich zwei Wochen später noch einmal nach Maslak gefahren.




(Undercover Tscherkessin: Senem)

(und zwei ihrer Freunde)
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