Am Wochenende habe ich den bisher tiefsten Einblick in die türkische Psyche bekommen, und das gleich mehrfach. Den Anfang machten Can, Senem und Ertan, meine türkischen Freunde noch aus Erasmus-Zeiten. Ertan und Senem sind ein (tscherkessisches) Paar, und sie kannten Can (einen Psychologie-Studenten) bis dahin noch nicht.

Wir saßen in einer Bar in Besiktas und haben ein Bier nach dem anderen getrunken und dabei sehr sehr lange über zwei Fragen diskutiert: Gibt es Gott und ist echte Demokratie möglich? Wie Ihr Euch denken könnt: Die Diskussion hatte es in sich. Senem und Ertan sind „gemäßigte“ Muslime. Senem trägt kein Kopftuch und trinkt Alkohol, aber der Ramadan ist beiden heilig. Can hingegen ist Alevit, glaubt nicht an Gott und hat gewaltige Angst vor dem Tod. Die drei hätten sich ohne mich vermutlich niemals unterhalten und waren gegenseitig sehr beeindruckt voneinander. Über sowas, klärte mich Can später auf, diskutiert man eigentlich nicht. Und erst recht nicht mit Frauen. Aha. Am Ende waren zumindest Ertan und ich auf einer Wellenlänge, wir konnten uns darauf einigen, dass die Religionen eigentlich das gleiche Ziel haben und es deshalb ohnehin egal ist, welcher man angehört.
Die Frage nach der Demokratie war fast noch spannender. Die Türkei ist kein demokratischer Staat, darin waren sich alle einig. Deutschland allerdings auch nicht, erklärte Ertan, denn am Ende bestimme die Wirtschaft und das Geld und nicht der Wähler. Seine Forderung nach einer Führungspersönlichkeit führte dann allerdings zu einem ziemlich heftigen Streit zwischen ihm und Senem, dem ich am Ende nicht mehr folgen konnte, weil er auf Türkisch ausgetragen wurde. Das hat mich an irgendwas erinnert…
Samstag und Sonntag habe ich relativ viel im Bett gelegen, da ich mir dank der ganzen Klimaanlagen in diesem Land eine heftige Erkältung eingefangen habe. Am Montag allerdings wurde es so spannend, dass ich unmöglich im Bett bleiben konnte. Ich habe stattdessen den Sprachkurs geschwänzt (meine Lehrerin Müseyyin hat es mir erlaubt) und war bei der Verabschiedung von Cankat dabei. Er ist einer der besten Freunde von Senem und Ertan und wird am Mittwoch (also heute!) wie jeder türkische Mann zum Militär gehen müssen.
Cankat zu Ehren gingen wir in ein tscherkessisches Restaurant in der Nähe des Taksim Platzes (da, wo das Nachtleben tobt). Ingesamt waren knapp 40 Menschen dort. Alle saßen an einem langen Tisch und aßen Spezialitäten wie sehr sehr leckeres tscherkessisches Huhn.


(Ganz links sitzt Özgür, Senems Cousin. Er will demnächst in Deutschland seinen Master machen und ich habe ihm zum Deutsch lernen eine Ärzte CD gebrannt. Jetzt ist er der größte türkische Ärzte Fan, den ich kenne. Keine Kunst, er ist der einzige. Der Typ im dunkelgrauen Hemd, der so skeptisch guckt, ist Cankat. Man nennt ihn auch gern „Amca“ (Onkel), weil er sich ständig um jeden Sorgen macht. Ganz rechts sitze ich, der Typ neben mir ist Saim, dahinter im weißen Hemd sitzt der Typ, der mich später mit „Allof“ bedacht hat (siehe unten im Text), er spricht mit dem gestreiften Ertan)
Anschließend wurde getanzt. Dazu stellen sich die Jungs in eine Reihe und ihnen gegenüber die Mädels und klatschen im Takt. Jeweils ein Junge und ein Mädchen tanzen in der Mitte, sie werden immer abwechselnd abgelöst, so dass immer nur ein Paar in der Mitte steht. Nach einem ziemlich lahmen Anfang steigerten die Akkordeonspieler den Rhythmus und die Tänzer wirbelten am Ende regelrecht herum. Die Jungs begannen zu singen und zu rufen, insbesondere als Cankat an der Reihe war. Er musste mit jedem Mädchen eine Runde drehen (das beinhaltet leider auch mich) und ihm wurden Dinge zugerufen wie „unser Soldat ist der größte Soldat“ und anderer Quatsch, den ich nicht verstanden habe. Wir waren die Touristenattraktion des Abends.
Mittlerweile weiß ich ein wenig von der Hassliebe der Studenten zum Militär. Nach dem Studium muss jeder Mann dorthin, Zivildienst gibt es nicht. Am Anfang macht man eine Prüfung, die darüber entscheidet, ob man a) 5 oder 12 Monate bleiben muss, ob man b) bezahlt wird und ob man c) am Schreibtisch sitzt oder vielleicht sogar irgendwelchen Bodenkämpfen beiwohnen darf. Letzteres ist natürlich die Angst eines jeden Anwärters und damit man dieses Gefühl möglichst lange genießen kann, bekommt man erst drei Tage vor Beginn des Militärdienstes bescheid, wie lange man bleibt und wo man stationiert wird. Cankat wird die ersten drei Monate in Ankara verbringen, was scheinbar ganz in Ordnung ist. Danach weiß er noch nicht. Senem erzählte mir später, ihr Bruder wurde vom Militär in eine Schule in Ostanatolien gesteckt, und musste dort Sport unterrichten. Er ist Sportlehrer. Das war ganz in Ordnung, meinte sie, aber eher unüblich.
Gegen Ende des Abends habe ich noch eine tscherkessische Tradition abbekommen, „Allof“. Ein mir bis dahin unbekannter junger Mann in weißgestärkten Hemd textete mich über meine unglaubliche Schönheit zu und bedauerte ausführlich, dass wir uns noch nicht eher begegnet seien. Außerdem erklärte er, er könne wirklich toll Akkordeon spielen und ob ich ihm nicht einmal zuhören wolle. Den Rest habe ich nicht verstanden, aber das lag weniger daran, dass er unglaublich schnell türkisch gesprochen hat, sondern daran, dass Senem und Saim immer mal wieder dazwischen funkten, um mir zu sagen, dass er Blödsinn rede, was ihn aber wenig beeindruckte. Gerettet haben sie mich nicht. „Allof“ erklärte mir Senem später, laufe hauptsächlich darauf hinaus, möglichst absurde Komplimente zu verteilen. Die einzig akzeptierte Reaktion der Frauen ist, noch absurdere Komplimente einzufordern. „Du bist die schönste Frau hier“ – „Ach, nur hier? Hier sind nur fünf andere Frauen.“ – „Du bist die schönste Frau der Stadt“ – „Nur dieser Stadt?“, etc. Tja, den Test habe ich nicht bestanden. Mir war das so schon peinlich genug.
Glücklicherweise gab es keinen Alkohol. Ich weiß nicht, ob ich es dann geschafft hätte, am nächsten Morgen um halb acht die Fähre nach Bursa zu erwischen. Das hat aber geklappt und nun bin ich wieder hier.